STORY: Giftige Idylle – die Sanierung im Wald
Den feinen Neuschlößer Sand verwendete die chemische Fabrik Ende des 19. Jahrhunderts für ihren Kunstdünger. Die entstandenen Mulden im Wald füllte sie mit Bauschutt und Chemikalienresten. Deshalb liegen heute in unmittelbarer Nähe der Bebauung Schadstoffe in schwindelerregenden Dimensionen. Von der geplanten Sicherung sind auch Grundstücke im Fichtenweg betroffen.
Von Michael Bayer
Die Altlastensanierung in Neuschloß wird erstmals Anwohnerinnen und Anwohner betreffen, die außerhalb des Produktionsgeländes der früheren chemischen Fabrik leben. Es geht um Grundstücke im Fichtenweg.
Nach einer Aufforderung des Regierungspräsidiums Darmstadt muss die Stadt Lampertheim zwei belastete Flächen im Wald sichern. Mit dabei: die ehemaligen Sandgruben. Sie liegen westlich des verlängerten Ulmenwegs neben dem inzwischen gesicherten Sodabuckel – und gleich hinter dem Waldrand parallel zum Eichen- und Fichtenweg.
Nach der abgeschlossenen Sanierung der Grundstücke des Wohngebiets, der Sicherung des Sodabuckels und der laufenden Grundwassersanierung beginnt damit der nächste Abschnitt in der Beseitigung der Überreste der früheren chemische Fabrik, die von 1829 bis 1927 in Neuschloß zunächst vor allem Soda und später Kunstdünger herstellte. (Details dazu in der großen Geschichte der Altlasten-Sanierung von Neuschloß.)
Das jetzt zur Sanierung anstehende Gelände rund um die Sandgruben wurde Mitte der Neunzigerjahre mehrfach untersucht. Es ist eingezäunt und sich selbst überlassen, so dass sich auf der Oberfläche Laub und Humus sammeln. Zwischen Kiefernbäumen wuchern zahlreiche Brombeersträucher.
Die Schadstoffe verteilen sich auf einer Fläche von 11.000 Quadratmetern. Besonders viele davon finden sich in drei Mulden; die westliche ragt in einige Gärten des Fichtenwegs hinein. Abgelagert sind laut den Gutachten vor allem Bauschutt, Schlacke, Schluff und Chemikalienreste.
Daraus ergibt sich ein ähnlicher Schadstoffcocktail wie auf dem inzwischen gesicherten Sodobuckel und in den Grundstücken der Wohnsiedlung. Hauptkontaminanten sind die Schwermetalle Arsen (bis zu 9.500 mg/kg) und Blei (bis zu 46.800 mg/kg) sowie Polyfluorierte Dibenzodioxine und Dibenzofurane (PFDD/PFDF). Ferner sind deutlich zu hohe Werte nachgewiesen für Kupfer, Quecksilber, Thallium, Zink und für Polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK).
Den betroffenen Anwohnern empfahlen die Gutachter, keine Nutzgärten anzulegen und Tiefbauarbeiten zu meiden.
Stoff | Höchste Belastung | Normalwert | Eingriffswert |
---|---|---|---|
Arsen | 9.500 mg/kg | 30 mg/kg | 50 mg/kg |
Blei | 46.800 mg/kg | 100 mg/kg | 600 mg/kg |
Kupfer | 1.070 mg/kg | 60 mg/kg | 300 mg/kg |
Quecksilber | 460 mg/kg | 1 mg/kg | 5 mg/kg |
Thallium | 314 mg/kg | 2 mg/kg | 20 mg/kg |
Zink | 5.100 mg/kg | 150 mg/kg | 1.000 mg/kg |
Summe PAK | 62 mg/kg | 5 mg/kg | 20 mg/kg |
Benzo(a)pyren | 4,1 mg/kg | - | 1 mg/kg |
PCDD/PCDF | 8.321 ng l-TE/kg | 5 ng l-TE/kg | 1000 ng l-TE/kg |
Entstanden sind die bis zu 2,60 Meter tiefen Mulden, weil Sand entnommen wurde – vermutlich nach 1893 für die Produktion von Superphospatdünger. Die Westmulde, die in die Fichtenweg-Grundstücke ragt, wurde nach den vorliegenden historischen Untersuchungen noch während der Produktionsphase der ehemaligen chemischen Fabrik befüllt. Für die beiden anderen Mulden ist unklar, ob sie während oder nach der Fabrikzeit teils zugeschüttet wurden.
In den Siebziger- und Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts nutzen jedenfalls jugendliche Radfahrer eine große Grube im Zentrum als – so war damals die Bezeichnung – Rennstrecke. So intensiv, dass sich eine ganze Reihe von Wegen nach unten und oben verfestigte. Die Strecke galt nicht nur bei Neuschlößer Heranwachsenden als attraktiv; auch aus der Kernstadt radelten regelmäßig junge Leute herbei.
Die Ostmulde wenige Meter entfernt war bei den erwachsenen Neuschlößern ein beliebtes Ziel – als willkommene Aufnahmefläche für Grünschnitt und andere Gartenabfälle, die oft mit Schubkarren aus dem Wohngebiet herbeigeschafft wurden.
Auch der „Rote Hof“ wird saniert
Die zweite betroffene Fläche nennt sich „Roter Hof“ und liegt östlich des Alten Lorscher Wegs. Die chemische Fabrik hatte dort Reste ihrer Kupferrösterei abgekippt – daher der Name. Auch diese Fläche ist mehr oder weniger gründlich eingezäunt und sich selbst überlassen.
Das Gefährdungspotential resultiert aus den sehr hohen oberflächennahen Schwermetall- und PCDD/PCDF-Gehalten.
Stoff | Höchste Belastung | Normalwert | Eingriffswert |
---|---|---|---|
Arsen | 180 mg/kg | 30 mg/kg | 50 mg/kg |
Blei | 32.400 mg/kg | 100 mg/kg | 600 mg/kg |
Kupfer | 600 mg/kg | 60 mg/kg | 300 mg/kg |
Quecksilber | 12 mg/kg | 1 mg/kg | 5 mg/kg |
Thallium | 22 mg/kg | 2 mg/kg | 20 mg/kg |
Zink | 5.750 mg/kg | 150 mg/kg | 1.000 mg/kg |
Summe PAK | 110 mg/kg | 5 mg/kg | 20 mg/kg |
PCDD/PCDF | 577.600 ng l-TE/kg | 5 ng l-TE/kg | 1000 ng l-TE/kg |
Der Zeitplan für die Sanierung
Jetzt also geht die Stadt die Sanierung von Sandgruben und „Rotem Hof“ an. Stephan Frech, Leiter des Fachdiensts Umwelt der Verwaltung, sieht im Gespräch mit dem Südhessen Morgen ein Kostenvolumen von 2,4 Millionen Euro auf den kommunalen Haushalt zukommen.
Mitte Oktober 2019 beauftragte die Verwaltung ein Ingenieurbüro mit der Konzeption der Sanierung, berichtete die Sprecherin des Projektbeirats Altlasten Neuschloß (PAN), Carola Biehal, in der Bürgerkammer. Denkbar ist, dass auf den Fichtenweg-Grundstücken Boden ausgetauscht wird so wie zuvor im Ortskern. Die Fläche im Wald könnte gerodet, ähnlich gesichert wie der Sodabuckel und wieder bepflanzt werden. „Wir können davon ausgehen, dass in 2020 die Planungen laufen und in 2021 die Erörterungen und Genehmigungen folgen. Der Beginn der Arbeiten ist für 2022 vorgesehen“, fügte Biehal hinzu.
Mit dieser Prognose sollte sie Recht behalten – zumindest das die Sandgruben betrifft. Mitte Juni 2022 konnte die Ortsvorsteherin berichten, für die Sanierung der Sandgruben seien alle Ausschreibungsunterlagen fertig gestellt. „Wir hoffen, dass sich trotz angespannter wirtschaftlicher Engpässe qualifizierte Unternehmen bewerben werden“, sagte sie im Ortsbeirat. Erste sichtbare Schritte seien im Herbst zu erwarten. Dann richteten Arbeiter die Baustelle ein. Die Rodungen des Walds seien für die Zeit vom 1. Oktober bis zum 28. Februar geplant.
Im Dezember 2022 hat die Stadtverordnetenversammlung die Sanierung vergeben – für gut 1,9 Millionen Euro. Kurz danach begannen die Arbeiten mit der Rodung der Waldbäume. Derzeit laufen die Erdarbeiten. Für den Herbst 2023 ist die neuerliche Bepflanzung geplant.
Die Planungen für den Roten Hof gehen erst weiter, wenn klar ist, wo und wie die Deutsche Bahn ihre Neubaustrecke erstellt. Die Trasse könnte die Altlast kreuzen.
Die weiteren Kapitel der Altlastensanierung von Neuschloß
- Bodensanierung – der große Kampf. Am Anfang will die Gefahr kaum jemand wahrhaben – Verantwortliche der Stadt genauso wenig wie viele Anwohnerinnen und Anwohner. Dann kämpft der Stadtteil, vereint in Altlastenverein und Projektbeirat. Und wird bekannt als größte bewohnte Altlast Hessens – und dank der Bürgerbeteiligung zum bundesweiten Vorbild. Die große Geschichte der Altlastensanierung im Ortskern von Neuschloß.
- Sodabuckel – die umstrittene Sicherung. Die Abfallhalde der früheren chemischen Fabrik ist massiv mit Schadstoffen belastet. Es braucht mehrere heftige Debatten zwischen Projektbeirat und Kommunalpolitik, bis die Stadt Lampertheim die Sicherung gründlich angeht. Doch dann versagt die zunächst beauftragte Baufirma – und die Arbeiten stehen wieder in Frage. Die Sodabuckel-Story.
- Grundwasser – die kleine Revolution. Das Grundwasser ist voller Arsen; Experten gehen von bis zu zehn Tonnen aus. Eine Größenordnung, die die bisherige Sanierungstechnik überfordert. Wissenschaftler der Universität Heidelberg entwickeln deshalb in Neuschloß ein weltweit neues Verfahren. Nach erfolgreichen Tests startet die großtechnische Umsetzung seit 2020 durch. Die Grundwasser-Story.