STORY: Bodensanierung im Wohngebiet – der große Kampf
Am Anfang will die Gefahr kaum jemand wahrhaben – Verantwortliche der Stadt genauso wenig wie viele Anwohnerinnen und Anwohner. Dann kämpft der Stadtteil, vereint in Altlastenverein und Projektbeirat. Und wird bekannt als größte bewohnte Altlast Hessens – und dank der Bürgerbeteiligung zum bundesweiten Vorbild. Die große Geschichte der Altlastensanierung im Ortskern von Neuschloß.
Von Michael Bayer
Es gibt Dinge, mit denen will niemand Aufsehen erregen. Der Zeitabschnitt, der Ende der Achtzigerjahre in Neuschloß beginnt und noch nicht abgeschlossen ist, ergibt sich zwangsläufig, wenn man Fabrik- und Siedlerzeit gemeinsam betrachtet. Es ist die dramatische Epoche der Altlastensanierung.
Am Anfang stehen Jahre des Wegsehens. Die Achtzigerjahre beginnen, als die Stadt Lampertheim im Rahmen der zweiten großen Bebauungsphase Grundstücke entlang des Buchenwegs vor dem Wald verkauft – zu einer Zeit also, in der das Bewusstsein für Altlastengefahren schon herangereift ist. Und irgendwie scheint man was zu ahnen im Rathaus. Jedenfalls rücken auf einem Teil der vorgesehenen Bauplätze Bagger und Laster an, die Erde abheben – und sie an einigen Stellen in Lampertheim abladen, wo man gerade baut. Unter anderem am Lärmschutzwall im Rosenstock, der deshalb später aufwendig saniert werden sollte.
Als die Kommune im neuen Wacholderweg einige Jahre später den Kindergarten für Neuschloß bauen will, fallen bei Bodenuntersuchungen Schadstoffe auf. Sie werden saniert; die Stadt nennt als Verursacherin eine Spedition, die dort ihre Wagen abgestellt habe. Und es geht weiter. 1989 graben Erlenweg-Bewohner in ihrem Keller – und erleben eine unliebsame Überraschung. Der Boden blüht nach dem Sauerstoffkontakt aus – eine aggressive chemische Reaktion von Natriumsulfat. Die Stadt spricht von einem Einzelfall.
Von Einzelfall zu Einzelfall
Und es kommt schlimmer: Studien ergeben, die Schadstoffbelastung auf dem Hügel mit Produktionsresten der Fabrik („Sodabuckel“), wo die Stadt nur zwei Jahre zuvor einen Abenteuerspielplatz errichtete, ist so hoch, dass selbst aufgewirbelter Staub gefährlich sein kann. Erst Monate nachdem der Verwaltung diese Erkenntnis schriftlich vorliegt, schließt sie den Kinderspielplatz – und sieht weiterhin keinerlei Gefahr für die Siedlung auf dem früheren Fabrikgelände. Es verfestigt sich der Eindruck, die Stadt wolle sich unter Bürgermeister Gisbert Dieter (SPD) vor ihrer Verantwortung als Verkäuferin der Grundstücke drücken.
Verlorene Prozesse von klagenden Bauplatzkäufern und die hartnäckige Kreisbeigeordnete der Grünen, Eva-Maria Krüger, bringen in dieser Frage etwas Bewegung ins Rathaus. Letztlich ist es erst der im September 1997 gewählte unabhängige Bürgermeister Erich Maier, der die Verantwortung der Stadt anerkennt und die Sanierung in Neuschloß mit vorantreibt. Flächendeckende Untersuchungen zeigen: Die Böden im kompletten Wohngebiet zwischen Altem Lorscher Weg und Ulmenweg weisen hohe Schadstoffbelastungen mit Arsen und Schwermetallen wie Blei, Kupfer, Quecksilber und Thallium auf. Dazu kommen Dioxine und Furane in teils extremen Konzentrationen. Das Trinkwasser ist voller Arsen.
Wegsehen wollen aber auch viele Neuschlößer. Fassungslos nehmen die Siedler zunächst zur Kenntnis, dass sie nichts mehr aus ihren vor kurzem noch prämierten Gärten essen dürfen, dass Behörden alle unbedeckten Flächen mit Rollrasen belegen lassen, um Staub zu vermeiden, dass sie nicht mehr mit dem Grundwasser aus ihren Brunnen gießen dürfen. Und als Jahre später Männer mit Motorsägen kommen und sämtliche Bepflanzung entfernen, Bagger die Gartenwege, Garagen und Nebengebäude abreißen – da stehen viele der früheren Heimatvertriebenen daneben mit Tränen in den Augen und dem Gefühl, zum zweiten Mal in ihrem Leben ihre Heimat und alles Geschaffene zu verlieren.
Der Kampf um den Sanierungsvertrag
Und um ein Haar wäre das auch tatsächlich passiert. Denn mit dem Bundes-Bodenschutzgesetz gilt seit März 1999 plötzlich die Regel, dass grundsätzlich neben dem Verursacher von Verunreinigungen auch alle Eigentümer die Kosten einer Sanierung tragen müssen. Da eine Auseinandersetzung mit einem Rechtsnachfolger der Fabrik wenig Aussichten auf Erfolg verspricht, hätten demnach die 125 betroffenen Grundstücksbesitzer des Sanierungsgebiets zusammen die am Ende gut 90 Millionen Euro aufbringen müssen – was den Wert von Grundstücken und Häuern um ein Vielfaches überschreitet. Der komplette Stadtteil wäre pleite.
Das ist der Punkt, an dem Neuschloß nach Jagdschloss, erster Sodafabrik und in blühende Gärten verwandelter Industriebrache zum vierten Mal beginnt, Außergewöhnliches zu leisten. Hilfreich ist dabei, dass seit der zweiten Bauphase Menschen im Stadtteil leben, die nicht weg-, sondern genau hinsehen; die wissen, wie man Dinge in die Hand nimmt. Sie gründen eine Bürgerinitiative, initiieren die Wahl eines Projektbeirats, dem laut Hessischem Altlastengesetz feste Beteiligungsrechte zustehen. Schließlich rufen die Anwohner einen Altlastenverein ins Leben, in den fast alle Grundstückseigentümer eintreten – und der von den Mitgliedsbeiträgen sehr fachkundigen Rechtsbeistand bezahlen kann.
Es folgen langwierige Verhandlungen mit der Stadt Lampertheim, dem Regierungspräsidium Darmstadt und dem Hessischen Umweltministerium. Die Neuschlößer bringen dafür die richtigen Leute mit: welche, die laut auf den Tisch hauen, welche, die diplomatisch vermittelnd formulieren, welche mit inhaltlichem Sachverstand – und als es sein muss, viele Betroffene mit Transparenten in Wiesbaden.
Der 22. Januar 2003 ist jener Tag, an dem sich diese Mühe auszahlt. Der Altlastenverein schließt mit Stadt Lampertheim und Land Hessen einen Sanierungs-Rahmenvertrag. Er beschränkt die Kosten für die Grundstückseigentümer auf zehn Prozent, maximal aber je 7700 Euro. Außerdem werden Nebengebäude und Gärten nach der Sanierung wieder hergerichtet – oder die Anwohner entschädigt. Ein großer Erfolg, der sich bis heute in Deutschland nicht wiederholt hat.
Die Grundstücke sind wieder sauber
Seit 2015 ist die bis dahin größte bewohnte hessische Altlast komplett saniert. Das Prinzip: Die oberen zwei Meter Grund sind komplett ausgetauscht. Darunter liegt eine Sperrschicht aus Mineralien und einer stabilen Folie, die Niederschlagswasser in unbelastete Bereiche ableitet. So gelangen die Schadstoffe tiefer in der Erde nicht ins Grundwasser.
Die Bilanz in Zahlen: 113 Grundstücke, 175.000 Tonnen kontaminierter Boden, 6500 Sattelzüge auf dem Weg zu Entsorgungsstellen, 260 Tonnen Schwermetalle, besonders Blei und Arsen, sowie 180 Gramm Dioxine und Furane. Wieder blühen Gärten auf, manche Neuschlößer erweitern ihre Häuser, Baulücken verschwinden, alle Straßen sind neu.
Altlastenverein löst sich auf
Im Januar 2020, runde 20 Jahre nach seiner Gründung, sieht der Altlastenverein seine Ziele erreicht – und strebt seine Auflösung an.
Ziel des Zusammenschlusses war, ein Rahmenvertrag mit Stadt und Land für die Sanierung der Grundstücke im Wohngebiet zu erreichen – und die Arbeiten bis zum Schluss zu begleiten. Beides ist geschafft, endgültig mit dem Ablauf der letzten Gewährleistungsfristen der Baufirmen. Deshalb beschließt der erweiterte Vorstand im Dezember die Auflösung des Vereins.
Eine Mitgliederversammlung soll Ende Januar die Details klären.
Mehr über die Bodensanierung im Ortskern lesen Sie in unseren Originalbeiträgen aus dieser Zeit.
Die weiteren Kapitel der Altlastensanierung von Neuschloß
- Sodabuckel – die umstrittene Sicherung. Die Abfallhalde der früheren chemischen Fabrik ist massiv mit Schadstoffen belastet. Es braucht mehrere heftige Debatten zwischen Projektbeirat und Kommunalpolitik, bis die Stadt Lampertheim die Sicherung gründlich angeht. Doch dann versagt die zunächst beauftragte Baufirma – und die Arbeiten stehen wieder in Frage. Die Sodabuckel-Story.
- Grundwasser – die kleine Revolution. Das Grundwasser ist voller Arsen; Experten gehen von bis zu zehn Tonnen aus. Eine Größenordnung, die die bisherige Sanierungstechnik überfordert. Wissenschaftler der Universität Heidelberg entwickeln deshalb in Neuschloß ein weltweit neues Verfahren. Nach erfolgreichen Tests startet die großtechnische Umsetzung seit 2020 durch. Die Grundwasser-Story.
- Wald – die hochgiftige Idylle. Den feinen Neuschlößer Sand verwendete die chemische Fabrik Ende des 19. Jahrhunderts für ihren Kunstdünger. Die entstandenen Mulden im Wald füllte sie mit Bauschutt und Chemikalienresten. Deshalb liegen heute in unmittelbarer Nähe der Bebauung Schadstoffe in schwindelerregenden Dimensionen. Von der geplanten Sicherung sind auch Grundstücke im Fichtenweg betroffen. Die Wald-Story.
Quellenhinweis
Dieser Text ist die aktualisierte Fassung eines Kapitels der Festschrift zum 550-jährigen Bestehen von Neuschloß. Dort findet sich auch eine umfangreiche Darstellung der Arbeit der chemischen Fabrik, die die Altlasten hinterließ. Die Festschrift ist in gedruckter Form für 5,50 Euro erhältlich im Neuschlößer Kiosk am Ahornplatz. Sie kann auch per Mail angefordert werden an die Adresse festschrift(at)neuschloss.net.
Illustration: Marlies Walkowiak.